Der Bundesrat hat das im Jahr 2020 verabschiedete neue Aktienrecht per 1. Januar 2023 in Kraft gesetzt. Es enthält zahlreiche Neuerungen für Kapitalgesellschaften. Auch die Bestimmungen betreffend Kapitalverlust und Überschuldung sind revidiert worden. Neu muss der Verwaltungsrat nicht nur im Falle eines Kapitalverlusts (Art. 725a nOR) oder einer Überschuldung (Art. 725b nOR) mit der nötigen Eile reagieren, sondern auch bei einer drohenden Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft (Art.725 nOR).
Mehr Flexibilität bei Aktienkapital und Dividenden
Die Revision bringt mehr Flexibilität bei der Kapitalstruktur und in Bezug auf Dividenden mit sich:
- Der Nennwert von Aktien kann auch kleiner sein als das heutige Minimum von CHF 0.01, solange er grösser als Null ist.
- Bestehende und neu gegründete Gesellschaften können ihr Aktienkapital in ihrer funktionalen Währung (d.h. der für die Geschäftstätigkeit wesentlichen Währung) führen.
- Gesellschaften können ein sog. Kapitalband von ±50% des eingetragenen Aktienkapitals einführen. Innerhalb des Kapitalbands kann der Verwaltungsrat das Aktienkapital innert maximal fünf Jahren erhöhen oder herabsetzen. Das Kapitalband ersetzt das heutige genehmigte Kapital, welches nur Kapital-erhöhungen zulässt und maximal zwei Jahre lang gilt.
- Interimsdividenden können auch aus Gewinnen des laufenden Geschäftsjahrs ausgeschüttet werden. Dies wird heute von einigen Revisionsfirmen nicht akzeptiert.
Neue Regeln für die Reserven
- Die Reserven werden neu (analog dem Rechnungslegungsrecht) in gesetzliche Kapitalreserve, gesetzliche Gewinnreserve und freiwillige Gewinnreserven eingeteilt (Art. 671 ff. nOR). Dabei dürfen freiwillige Gewinnreserven nur gebildet werden, wenn das dauernde Gedeihen des Unternehmens unter Berücksichtigung der Interessen aller Aktionäre dies rechtfertigt (Art. 673 Abs. 2 nOR).
- Verluste müssen in folgender Reihenfolge verrechnet werden: Zuerst mit dem Gewinnvortrag, dann mit den freiwilligen Gewinnreserven, anschliessend mit der gesetzlichen Gewinnreserve und zuletzt mit der gesetzlichen Kapitalreserve. Anstelle einer Verrechnung mit den gesetzlichen Reserven ist auch ein Vortrag auf neue Rechnung gestattet (Art. 674 nOR).
Aktionärsrechte
Die Reform erweitert die Rechte von Minderheitsaktionären. Namentlich werden verschiedene Schwellenwerte für die Ausübung von Aktionärsrechten gesenkt:
Mitwirkungs- /Kontrollrecht | Geltendes Recht | Neues Recht | Bestimmung |
Einberufung GV | 10% des AK | 10% des AK oder der Stimmen (nicht kotierte) 5% des AK oder der Stimmen (kotierte) | Art. 699 Abs. 3 nOR |
Traktandierung | 10% des AK oder CHF 1 Mio. Nennwert | 5% des AK oder der Stimmen (nicht kotierte) 0.5% des AK oder der Stimmen (kotierte) | Art. 699b Abs. 1 nOR |
Auskünfte ausserhalb GV | n/a | 10% des AK oder der Stimmen (nicht kotierte) n/a (kotierte) | Art. 697 Abs. 2 nOR |
Sonderprüfung (neu: Sonderuntersuchung) | 10% des AK oder CHF 2 Mio. Nennwert | 5% des AK oder der Stimmen (kotierte) 10% des AK oder der Stimmen (nicht kotierte) | Art. 697d Abs. 1 nOR |
Auflösungsklage | 10% des AK | 10% des AK oder der Stimmen | Art. 737 Abs. 1 Ziff. 4 nOR |
Generalversammlung
Die Reform modernisiert die GV und erlaubt die Nutzung digitaler Technologien. Sie erlaubt:
- Virtuelle Generalversammlungen; und
- Neu können GV-Beschlüsse ohne Einhaltung der für die Einberufung geltenden Vorschriften auch auf dem Zirkularweg (schriftlich oder elektronisch) gefasst werden, sofern nicht ein Aktionär mündliche Beratung verlangt (Art. 701 Abs. 3 nOR).
- schriftliche oder elektronische GV-Beschlüsse.
Vor der ordentlichen GV genügt es inskünftig, wenn Geschäfts- und Revisionsbericht elektronisch zugänglich gemacht werden. Diese Unterlagen müssen nicht mehr physisch aufgelegt und (auf Verlangen) zugestellt werden (Art. 699a Abs. 1 nOR).
Verwaltungsrat
Zirkulationsbeschlüsse auf elektronischem Weg ohne Unterschriften neu zulässig
Unter geltendem Recht ist umstritten, ob Zirkulationsbeschlüsse des VR auch via E-Mail möglich sind. Nun stellt Art. 713 Abs. 2 nOR klar, dass eine Beschlussfassung auf elektronischem Weg zulässig ist und diesfalls keine Unterschrift verlangt wird.
Neue ausdrückliche Sorgfalts- und Treuepflicht bei Interessenkonflikten
Neu sind die VR- und GL-Mitglieder verpflichtet, den VR unverzüglich und vollständig über sie betreffende Interessenkonflikte zu informieren (Art. 717a Abs. 1 nOR).
Revisionsstelle
Abberufung der Revisionsstelle nur noch aus wichtigem Grund
Die GV kann die Revisionsstelle inskünftig nur noch aus wichtigen Gründen abberufen (Art. 730a Abs. 4 nOR), wobei diese Gründe im Anhang zur Jahresrechnung offenzulegen sind (Art. 959c Abs. 2 Ziff. 14 nOR).
Finanzielle Notlagen
Neu hat der VR ausdrückliche Pflichten bei drohender Zahlungsunfähigkeit (Art. 725 nOR)
Der VR hat die Pflicht zur Überwachung der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft und muss bei drohender Zahlungsunfähigkeit mit gebotener Eile
- Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit ergreifen,
- soweit erforderlich weitere Sanierungsmassnahmen treffen bzw. der GV beantragen und
- nötigenfalls ein Nachlassstundungsgesuch einreichen.
Keine zwingende Einberufung einer GV mehr bei hälftigem Kapitalverlust
Bei hälftigem Kapitalverlust muss der VR inskünftig Massnahmen zu dessen Beseitigung ergreifen und soweit erforderlich weitere Sanierungsmassnahmen treffen oder der GV beantragen. Die Einberufung einer Sanierungsgeneralversammlung wie nach geltendem Recht wird aber nicht mehr zwingend verlangt (Art. 725a Abs. 1 nOR). Dafür hat neu eine Gesellschaft ohne Revisionsstelle die letzte Jahresrechnung einer eingeschränkten Revision durch einen zugelassenen Revisor unterziehen zu lassen (Art. 725 Abs. 2 nOR).
Nur nicht rückzahlbare gesetzliche Reserven zählen für Schwellenwert des hälftigen Kapitalverlusts
Unter geltendem Recht ist umstritten, ob für die Berechnung des hälftigen Kapitalverlusts 50% der gesamten oder nur der gesperrten gesetzlichen Reserven zu berücksichtigen seien. Mit der Revision wird diese Streitfrage geklärt: Es sind nur die nicht rückzahlbaren, gesperrten gesetzlichen Reserven mitzuzählen (Art. 725a Abs. 1 nOR).
Klare Vorgaben und grössere Rechtssicherheit bei Überschuldung
Bei begründeter Besorgnis der Überschuldung sind wie bisher grundsätzlich je ein Zwischenabschluss zu Fortführungs- und Veräusserungswerten zu erstellen und prüfen zu lassen. Wenn die Annahme der Fortführung nicht besteht, genügt der Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten. Besteht hingegen die Annahme der Fortführung und zeigt der entsprechende Zwischenabschluss keine Überschuldung, kann auf den Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten verzichtet werden (Art. 725a Abs. 1 und 2 nOR).
Die Rangrücktritte, welche den VR ermächtigen, von der Richterbenachrichtigung abzusehen, müssen nun explizit auch die Zinsforderungen während der Überschuldung umfassen (Art. 725b Abs. 4 Ziff. 1 nOR).
Auf die Benachrichtigung des Gerichts kann neu explizit verzichtet werden, solange begründete Aussicht besteht, dass die Überschuldung spätestens 90 Tage nach Vorliegen der geprüften Zwischenabschlüsse behoben werden kann und die Gläubigerforderungen nicht zusätzlich gefährdet werden (Art. 725b Abs. 4 nOR).
Quellen: KPMG, Homburger, Trex